Zuse an der Schnur [Kurzfassung siehe Buch "Kreuzberger Notizen"]

Wohlfeile Legenden ranken sich um den Erbauer des ersten funktionsfähigen Computers. Anmerkungen von Eike Stedefeldt

Ein Institut der Technischen Universität Berlin und eine historische Gesellschaft sind nach ihm benannt, ebenso eine Verdienstmedaille, ein Museum und eine Berufsfachschule in Hünfeld sowie eine Straße in Bad Hersfeld. Sogar ein ICE trägt seinen Namen: Konrad Zuse. Als Sahnehäubchen ließ 1999 der Leiter des Bremer Instituts für Universalgeschichte, Professor Arno Peters, vom Verlag Neues Leben ein überaus eitles Werk namens Computer-Sozialismus – Gespräche mit Konrad Zuse drucken, das nicht nur dem Autor selbst huldigen, sondern Zuse ein weiteres Denkmal setzen sollte. Mit beachtlichem Erfolg: Hinter rotem Leinen und Goldprägung darf man jede Menge Blüten der Sorte "Durch die Abspaltung der Seele wird die Ganzheit der Seele zerstört" lesen. Oder genauer: "Die Abspaltung der seelischen Liebe von der körperlich-seelischen liebenden Ganzheit der Gemeinschaft zwischen Mann und Frau führt zur Absolutsetzung der Sexualität, zur Prostitution, zu Homosexualität und schließlich, nach Verabsolutierung des Bewußtseins gegenüber dem Sein, auch zur Bewußtseinsspaltung, die das Individuum und am Ende die Gemeinschaft von innen heraus zerstört." Inspiriert zu solchen in der Tat "von allen herkömmlichen Gegenwartsanalysen und Zukunftsvisionen weit entfernten Gedanken" hat Peters (Jahrgang 1916, Promotion in Philosophie 1945) nicht etwa eine geriatrische Laune der Götter des New Age. Schuld waren private Spinnstunden mit Konrad Zuse und die davon übriggebliebenen Notizen und Tonbandaufzeichnungen. Zuse habe die Ursache für den "Irrweg der Menschheit in der auf Gewinn gerichteten Marktwirtschaft" gefunden, verkündet stolz die Bauchbinde des Buches. Und erfand daraufhin besagten "Computer-Sozialismus" als "unsere Aufgabe für das dritte Jahrtausend". "Der Historiker Arno Peters hat mit Konrad Zuse dessen Vision zu einem klar definierten Zukunftsbild entwickelt und bewiesen, daß wir uns heute bereits mitten im Übergang zum Sozialismus befinden."

Klasse! Und was alles in dieser Vision Platz hat! Jenes Zukunftsbild ist derart "klar" und "ganzheitlich", daß zur theoretischen Grundlage Oswald Spenglers "Politische Schriften" von 1932 taugen und schließlich die Verwirklichung seiner Thesen herbeigesehnt wird. Die "ganzheitliche Betrachtung" des "vor uns liegenden Zeitalters" verlangt ebenso nach preußischen Tugenden wie nach naturphilosophischem Neusprech (weg mit der "Entgegensetzung einer seelisch-geistigen Sphäre zur menschlichen Natur"; mit der "Überwindung der Folgen aller Spaltungsprozesse wird die Ganzheit des Menschen auf höherer Ebene wiederhergestellt" – "der Gegensatz zwischen Mensch und Natur wird durch das Bewußtsein ihrer Identität überwunden") und schließt natürlich eine fundierte Wirtschafts- und Medienkritik ein, die nicht nur anti-russisch (Mafia!) und anti-amerikanisch (Bill Gates!, Hollywood!), sondern auch wie folgt daherkommt: "So erfährt der Fernsehzuschauer fast alles über das kleine Israel (5 Millionen Einwohner) und fast nichts über das große Indien (über 900 Millionen Einwohner)." Apropos: War da nicht mal was mit Indo-Germanien und Sozialismus, als Peters promovierte? Und wer war damals Konrad Zuse?

"Von unserer Arbeit", so schrieb der am 22. Juni 1910 in Berlin geborene Ingenieur 1984 in seinem Memoiren, "erfuhr die Weltöffentlichkeit lange nichts ... Heute wird kaum noch ernsthaft bestritten, daß die in meiner Berliner Werkstatt 1941 fertiggestellte Z3 der erste zufriedenstellend arbeitende Computer der Welt war". Diese Werkstatt befand sich in der elterlichen Wohnung in der Methfesselstraße 7/Ecke Belle Alliancestraße, dem heutigen Mehringdamm in Berlin-Kreuzberg. Seine Forschungen hatte Zuse während der Studienzeit begonnen; letztes Domizil der "Zuse Ingenieurbüro und Apparatebau" vor der Flucht 1945 war eine Fabriketage in der Kreuzberger Oranienstraße 6.

Viel ist über Zuse, der am 18. Dezember 1995 verstarb, geschrieben worden. Doch wo man auch sucht, nirgends findet sich auch nur der Ansatz einer distanzierten Betrachtung. Das ist verdächtig bei einem, dessen Aufstieg im "Dritten Reich" begann. Schon die Lektüre seiner Memoiren Der Computer – mein Lebenswerk vermag den Mythos vom moralisch sauberen, den politischen Wirren der Zeit hilflos ausgelieferten Wissenschaftler zu zerlegen. Schnell ergibt sich das Bild eines Mannes, der sich durchaus im System einzurichten wußte. Ein Opportunist, ein Mitläufer, ein Profiteur – und auch ein Mittäter.

Als Maschinenbaustudent an der Technischen Hochschule Berlin-Charlottenburg suchte Zuse 1927/28 noch nach politischer Orientierung: "Ich las damals auch den ersten Band von Karl Marx’ Kapital und versuchte, so gut es ging, das schwierige Buch zu verstehen". Jedoch habe ihn das "nicht sehr beeindrucken können" – "zu abstrakt, die Probleme darin zu breit, zu wenig konkret abgehandelt". Da mag, wer Das Kapital selbst gelesen hat, den Kopf schütteln, zumal Zuse über Ernst Jünger dasselbe Urteil fällt. Damals war der Sprößling eines preußischen Beamten bereits Mitglied der von ihm als "eher rechts eingestellt" beschriebenen "Akademischen Verbindung Motiv" mit Sitz in der Bismarckstraße und konnte weit mehr denn mit Marx und Jünger mit Oswald Spenglers Preußentum und Sozialismus anfangen. „Noch heute", so Zuse 1984, "halte ich Spengler nicht für einen der geistigen Väter des Nationalsozialismus". Ein freimütiges Bekenntnis, das bestens zum schnurgeraden Lebensweg des Konrad Zuse paßt. Brüche, persönliche Schuld oder Verantwortung waren nicht vorgesehen und werden in seiner Selbstreflexion auch nicht zugelassen, und so ergibt sich jene Mixtur aus Verdrängung und Relativierung, wie sie so typisch für die Eliten des "Wirtschaftswunders" war.

Beispiele finden sich auch bei Zuse zuhauf: "Manche Studentenverbindungen zogen es nach der Machtergreifung vor, sich aufzulösen. Wir im Motiv hatten die Übergangszeit verhältnismäßig gut überstanden und waren auch nicht gleichgeschaltet worden. Zwar mußten wir unseren Namen aufgeben; als 'Kameradschaft Wilhelm Stier' konnten wir im wesentlichen unser bisheriges Verbindungsleben fortsetzen. Kritisch wurde es erst, als man von uns verlangte, daß alle jüdischen Mitglieder den Verein verlassen müßten. ... Als wir aufgrund dieser Forderung den Verein doch auflösen wollten, waren es die jüdischen Mitglieder, die freiwillig und stillschweigend austraten und die übrigen beschworen, nicht ihretwegen eine so traditionsreiche Verbindung – sie war die zweitälteste der Hochschule und bestand seit 1847 – aufzulösen. ... Unser Haus blieb eine Stätte der freien Meinungsäußerung, ein Ort, wo man, wie wir sagten, noch 'eine Lippe riskieren' konnte." Die gewohnten Rechtfertigungsmuster: Daran, daß sich die Korporation nicht auflöste, waren letztlich die Juden schuld – wir waren ja eigentlich so edel und selbstlos. Darauf, daß es nur anständig gewesen wäre oder von Mut gezeugt hätte, einen Verein aufzulösen, dem jüdische Mitglieder nicht angehören durften, kam Zuse selbst im hohen Alter nicht.

Man hatte schließlich außer "einer Lippe" eine Karriere zu riskieren. 1935 wird Zuse Statiker bei Henschel. Dem Kriegsausbruch folgt die erste Einberufung, der er durch Protektion wieder entkommt: Prof. Herbert Wagner, ein "Pionier der deutschen Luftfahrt" (Zuse) "war Leiter der Sonderabteilung F bei den Henschel-Flugzeug-Werken und entwickelte dort ferngesteuerte fliegende Bomben (...) Für diese unmittelbar der Waffenentwicklung dienende Tätigkeit wurde ich schließlich 'uk' gestellt". Die Anstellung bei einem führenden Rüstungskonzern Nazi-Deutschlands zahlt sich aus. „Ich konnte mitten im Krieg die 'Zuse Ingenieurbüro und Apparatebau, Berlin' aufbauen", berichtet Zuse nicht ohne Stolz darüber, daß er bei Henschel trotz Krieg in Teilzeit arbeiten durfte. Doch litt sein aufstrebendes Unternehmen an Personalmangel. Wieder half die NS-Bürokratie. So zitiert Zuse einen im Juli 1944, als sich der alliierte Ring um Deutschland zusammenzog, bei ihm eingestellten ehemaligen Angestellten: "Herr Zuse war inzwischen in die Nähe des Görlitzer Bahnhofs umgezogen. Er arbeitete nun in einer großen Etage einer leerstehenden Fabrik für Flugzeugteile (...) Dann wurde ich für Herrn Zuse uk gestellt."
Ach ja, und: "Ich war zusammen mit einer Russin im Keller beschäftigt." Zuse selbst wird einige Seiten weiter deutlicher: "Auch einige Fremdarbeiter wurden mir damals zugeteilt; wir machten keinen Unterschied zwischen ihnen und deutschen Mitarbeitern." Natürlich, es waren ja auch keine Zwangs-, sondern "Fremdarbeiter". Darüber, wo sie untergebracht, ob oder wie sie bezahlt und verpflegt wurden, geht Zuse generös hinweg. Wahrscheinlich waren die Sklaven sogar glücklich, in seiner Firma arbeiten zu dürfen.

Die hatte Probleme ganz anderen Ausmaßes. Zur Illustration zitiert Zuse ohne jede Distanzierung Martin F. Wolters, einen Mitarbeiter der Technischen Hochschule, der "später sehr anschaulich über den Beschaffungsnotstand dieser Zeit berichtet" habe, konkret über die Suche nach Blindgängern: "Dieses taten Spezialkommandos aus den Konzentrationslagern, die alle 15 Minuten abgelöst wurden und ansonsten ein relativ gutes Leben führten." Und da wurde gelegentlich nicht etwa ein Mensch zerfetzt, sondern: "Wenn es knallte, wußte sein Nachfolger, daß eben dieser Handgriff falsch gewesen war. So wurde rein empirisch die britische Raffinesse im Erfinden neuer und versteckter Zünder bekämpft. Dr. Schreyer (ein enger Freund Zuses – E. S.) handelte sich den Auftrag ein, eine Maschine zu erfinden, die oben auf der Erdoberfläche herumgefahren anzeigte, wo die Bombe lag ... Durch die Übernahme wur-den wir kriegsentscheidender Betrieb." Beschaffungsnotstand an KZ-Häftlingen, die im Himmelfahrtskommando ein gutes, aber leider zu kurzes Leben führten – zynischer geht es kaum.

Aber im Prinzip war Zuse doch ein Widerstandskämpfer. "Wohlwissend daß seine Erfindung eine Woche Rechenarbeit eines ganzen Planungsbüros innerhalb weniger Stunden erledigen konnte, schwieg Zuse ob der düsteren Zeiten und der damit verbundenen Relevanz seines frühen Wissens." So liest es sich in einer Kurzbiographie des im November 1984 gegründeten Konrad-Zuse-Zentrums für Informationstechnik Berlin (ZIB). Ob der "düsteren Zeiten" hat Zuse aber keineswegs geschwiegen, sondern immer wieder versucht, entscheidende Stellen von der Nützlichkeit seiner Rechenmaschinen zu überzeugen – und entscheidend waren damals solche, die mit Rüstung und Kriegführung zu tun hatten wie das Heereswaffenamt, dem er schon im Dezember 1939 eine Eingabe sandte, "den Entwurf für ein Chiffriergerät betreffend", und die Deutsche Versuchsanstalt für Luftfahrt in Berlin-Adlershof, die wiederum Görings Reichsluftfahrtministerium unterstand. Vornehmlich deren Mitarbeitern stellte er am 12. Mai 1941 seine Rechenanlage vor, bei deren Bau er ab Sommer 1940 auf Nachrichtentechniker und Material aus dem Oberkommando der Wehrmacht zurückgreifen konnte. "Später erzählte man sich, daß Speer eines Tages von meinen Rechenmaschinen erfahren und Hitler vorgetragen habe, eine derartige Erfindung könne zum Endsieg beitragen. Hitler soll geantwortet haben, dazu brauche er keine Rechenmaschine, das mache er mit dem Mut seiner Soldaten." Wie schade, daß Hitlers Rüstungsminister scheiterte; Zuse beklagt in seinen Memoiren immer wieder die "mangelnde Dringlichkeitsstufe" seitens der Behörden.

"Meine Rechenmaschinen waren nur mittelbar von militärischem Nutzen", entschuldigt sich der willige Ingenieur im nachhinein. Das Eingeständnis, daß sie militärisch nutzten, bedarf natürlich einer Rechtfertigung, die interessanterweise demselben "Wir sind zerrissen"-Schema folgt wie heute die humanitären Kriegseinsätze deutscher Demokraten: „Gleichwohl befand ich mich damals, wie viele andere Techniker- und Ingenieurkollegen bei den Henschel Flugzeug-Werken, in einer prekären Situation. Angesichts des Bombenkrieges auf die deutsche Zivilbevölkerung konnten wir – trotz der negativen Einstellung vieler von uns zum herrschenden Regime – unsere Aufgabe auch nicht darin sehen, die Bemühungen um den Bau von Flugabwehr-Raketen zu sabotieren. Ich entsinne mich noch gut, wie wir nach dem grausamen Bombenangriff auf Dresden alle von heftigem Zorn gepackt wurden und wie wir uns nun erst recht in die Arbeit stürzten, um die laufenden Entwicklungen einsatzfähig zu machen." Das Bombardement Dresdens fand in der Nacht zum 14. Februar 1945 statt. Schon Jahre vorher hatte Zuse bei Henschel an lenkbaren Bomben gearbeitet, da waren ihm "trotz der negativen Einstellung zum herrschenden Regime" keine Skrupel gekommen. Aber diese Bomben wurden ja auch nicht auf deutsche Zivilisten gelenkt.

Die Nachkriegskarriere Konrad Zuses begann ebenso bereits im Frühjahr 1945 wie die seines Freundes, des Raketentechnikers Wernher von Braun. Dieser floh mit seinem Mitarbeiterstab aus Peenemünde, Zuse mit dem seinen aus Berlin zunächst in Richtung Harz, dann weiter nach Bayern. Beide Gruppen trafen sich im Allgäu, ließen sich dort gefahrlos von der Front überrollen und von den Alliierten kurzzeitig internieren. Während von Braun in die USA ging, um Trägersysteme zu entwickeln, blieb Zuse in Bayern und konnte in Hopferau bei Füssen sein Ingenieurbüro wieder aufbauen, aus dem später die Zuse KG im hessischen Neukirchen hervorging. Bis 1967, als seine Firma im Siemens-Nixdorf-Konzern aufging und er sich aus der Wirtschaft zurückzog, hatte Zuse stabile Beziehungen zu führenden Repräsentanten in Wirtschaft und Politik; in seiner Autobiographie tauchen in geschäftlichem Kontext zum Beispiel Namen wie der des damaligen Verteidigungsministers Franz Josef Strauß (CSU) oder des Forschungsministers Gerhard Stoltenberg (CDU) auf.

Obwohl es ein leichtes gewesen wäre, seine Memoiren genauer zu lesen, dieser Bilderbuchkarriere nachzuspüren, wurde Konrad Zuse zum Idealtyp des erfolgreichen Erfinders und Unternehmers stilisiert. Da lebt die Legende eines mit den höchsten Orden der Bundesrepublik geehrten und in aller Welt – sogar von DDR-Universitäten in Halle/Saale und Dresden – mit Ehrentiteln bedachten, unbescholtenen Pioniers der Computertechnik. Aber es bleibt eine Legende wie so viele nützliche in der Geschichte der Bundesrepublik.

Erschienen in konkret (Hamburg), Ausgabe März 2001. Als im Hessischen Rundfunk 2005 an Konrad Zuses 10. Todestag erinnert wurde, interviewte mich zu dieser Sache auch hr-Autor Christoph Käppeler. Zu hören ist der Beitrag hier.